Sehstörungen nach Gehirnerschütterung

Sehstörungen sind nach Gehirnerschütterung keine Seltenheit. Auch kann die visuelle Reaktionszeit nach Schädelhirntrauma (SHT) deutlich eingeschränkt sein. In einer Analyse von 100 Jugendlichen mit einem Durchschnittsalter von 14,5 Jahren zeigten 69 % Visusstörungen, 51 % wiesen Akkommodations-Störungen, 49 % eine Konvergenzinsuffizienz und 29 % sakkadische Dysfunktionen auf. 46 % wiesen mindesten zwei dieser Störungen auf. Auch Licht- und Lärmempfindlichkeit gehören zu den häufig berichteten Symptomen nach Gehirnerschütterung. Es wird vermutet, dass Störungen der cortico-thalamischen Trakte mit zusätzlicher meningealer Reizung ursächlich sein könnten.

Verschiedenste Hirnareale sind an Augenbewegungen, der visuellen Verarbeitung und der Durchführung sakkadischer Augenbewegungen beteiligt. Die Analyse des visuellen Systems kann deshalb in der Beurteilung von Gehirnerschütterungen eine wichtige Rolle einnehmen. Die visuellen Gehirnbahnen von den Augen bis zur Sehrinde weisen unzählige Verbindungen zu Stirn-, Scheitel- und Schläfenlappen auf. Speziell für sakkadische Funktionen werden die kortikalen Bereiche der frontalen Augenfelder, der dorsolaterale präfrontale Kortex (DLPFC), der motorische Assoziationskortex, der hintere parietale Kortex, die mittlere temporale Region und das Striatum aktiviert. Diese Bereiche sind verantwortlich für die Planung, Initiierung und Durchführung koordinierter Sakkaden, wie sie für das Lesen und die schnelle Zahlerkennung und Benennung nötig sind. Der dorsolaterale präfrontale Kortex spielt auch eine entscheidende Rolle bei der Kontrolle von Sakkaden durch die Unterdrückung unerwünschter Augenbewegungen (Antisakkaden). Andere subkortikale Strukturen, die an Augenbewegungen beteiligt sind, sind der Thalamus, der Colliculus superior, das Kleinhirn und andere Hirnstamm-Strukturen. Die efferenten Sehbahnen scheinen besonders anfällig für Verletzungen bei Gehirnerschütterungen zu sein.

Die visuelle Verarbeitung und höhere kognitive Funktionen können durch eine Gehirnerschütterung auch langfristig eingeschränkt werden. Dies zeigt sich auch in einer deutlichen Einschränkung für verschiedene Aspekte der Okkulomotorik. In einem kombinerten vestibulo-okkulomotorischen Screening, welches als Parameter die fünf Domänen Augenfolgebewegungen (smooth pursuit), horizontale und vertikale Sakkaden, Akkomodationsfähigkeit mittels Nah-Konvergenz-Abstand (NPC), horizontal vestibulärer Augen-Reflex (VOR) und visuelle Bewegungsempfindlichkeit (VMS) umfasste, zeigte sich nach Gehirnerschütterung, dass die VOR- (Odds Ratio, (OR) 3,89) und VMS-Komponenten (OR, 3,37) am prädiktivsten für Gehirnerschütterungen waren. Ein NPC Abstand > 5 cm und jeder VOMS Symptom Score > 2 führte zu einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer korrekten Diagnose auf 38 % bzw. 50 %.

Störungen der Augen-Vergenzbewegungen

Unter Konvergenz versteht man die gleichzeitige Adduktion der Augen zur Fokussierung auf kopfnahe Objekte im Sinne des Binokularsehens. Störungen dieser Vergenz können mit Doppelbildern, vermehrter Schläfrigkeit und Konzentrationsstörungen assoziiert sein. Eine pathologische Konvergenz liegt vor, wenn der Nahpunktabstand („near point of convergence“ (NPC)) auf > 5 bis 10 cm vergrößert ist. Der Patient beginnt zu schielen bzw. kann den Gegenstand nicht mehr fokussieren. Konvergenz-Insuffizienzen sind eine binokulare Störung des Sehens mit einem verlängerten Konvergenznahpunkt und Auftreten von entsprechenden Symptomen.

Die Prävalenz von Vergenz-Dysfunktionen wird nach leichtem SHT in 47 bis 64 % angegeben, während generell nach SHT aller Schweregrade Konvergenzstörungen in 23 bis 46 % gesehen werden. Sie liegen allerdings auch in 1 bis 8 % bei Gesunden vor.

Eine aktuelle Untersuchung zeigte, dass Konvergenz-Insuffizienzen in bis zu 42 % bei Sportlern nach Gehirnerschütterung innerhalb des 1. Monats nach Trauma vorlagen. Diese Störungen waren mit neurokognitiven Einschränkungen und vermehrter Symptomatik assoziiert.

Bei der Akkomodation ändert das Auge die Form der Linse in Abhängigkeit von der Distanz des zu fokussierenden Objektes. Die Akkomodationsamplitude (AA) ist definiert als Kehrwert der Brennweite in Metern. Beispielsweise weist ein Patient, bei dem Akkomodation von 10 cm zum verschwommenen Sehen führt eine AA von 0,1 m, entsprechend 10 Dioptrien auf.

Akkommodationsstörungen treten ebenfalls häufig nach leichtem SHT auf. Sie manifestieren sich als verminderte AA. Die AA ist altersabhängig. Ihr minimaler Wert lässt sich mit der Formel 15 - (0,25 x Alter) abschätzen.

Akkommodations-Störungen finden sich in 21 bis 47 % bei nicht presbyopischen eher schwer verletzten SHT-Patienten.

Die Analyse von Augenfolgebewegungen erlaubt eine komplexe Beurteilung höherer kognitiver Funktionen wie Aufmerksamkeit, Antizipation, Arbeitsgedächtnis sowie kontinuierliche und ggf. sakkadische Augenbewegungen. Die langsame Augenfolgebewegung lässt Kleinhirnfunktionen und höhere kortikale Ebenen inkl. des präfrontalen Cortex mit beurteilen. Auffälligkeiten bis zu 60 % wurden nach leichtem SHT beobachtet.

Sakkaden dienen der schnellen Neuausrichtung des Blicks auf visuelle Ziele. Sakkadische Augenbewegungen werden von verschiedensten Hirnregionen gesteuert und beinhalten da-mit eine Vielfalt kognitiver Prozesse. Die beteiligten Hirnregionen sind v.a. das frontale Augenfeld (FEF), das parietale Augenfeld (PEF) und das supplementäre Augenfeld (SEF) sowie der dorsolaterale präfrontale Cortex. Auch das Kleinhirn trägt zur Sakkadenbewegung bei.

Sakkadenfunktionsstörungen und Bulbusmotilitäts-Dysfunktionen treten in bis zu 90 % nach Gehirnerschütterung auf und lassen Verletzungen in der Region des präfrontalen Kortex vermuten.

Der King-Devick-Test zählt neben dem SCAT2- und SCAT3-Test und der Standardized Assessment of Concussion (SAC als Teil des SCAT2 bzw. SCAT3) zu den zunehmend am häufigsten verwendeten Tests zur Spielfeldrandbeurteilung einer Gehirnerschütterung.

Das ausgedehnte Gehirnnetzwerk visueller Funktionen ist die Basis des King-Devick-Tests. Augenbewegungen stehen in engem Zusammenhang mit der Funktionsfähigkeit des verletzten Gehirns. Augenbewegungen sind nach leichten Gehirnverletzungen häufig beeinträchtigt und stellen somit einen Indikator für eine suboptimale Gehirnfunktion dar.

Der King-Devick-Test ist ein visuell-basierter Test, bei dem Zahlen durch Testung sakkadischer Augenbewegungen schnell gelesen und erkannt werden müssen. Im Einzelnen werden somit Einschränkungen der sakkadischen Funktionen, von Aufmerksamkeit und Konzentration sowie von Schnelligkeit und Sprechvermögen überprüft. Auf diese Art und Weise wird neben der visuellen Funktion die Integrität von Hirnstammfunktionen, Kleinhirnfunktionen und kortikalen Funktionen überprüft.

Dieser Test kann im Sport ideal am Spielfeldrand angewendet werden und benötigt etwa eine Minute (maximal zwei Minuten) zur vollständigen Durchführung. Er beinhaltet das Lesen auf Karten angezeigt Ziffernfolgen, die sakkadisch gelesen werden müssen.

Vorteilhaft sind die einfache Durchführung und Interpretation, die auch von nicht-medizinischem Personal (Eltern, Betreuer, Trainer usw.) erfolgen kann sowie die Schnelligkeit der Durchführung und das einfache Gebrauchsmaterial (Instrument mit Stoppuhrfunktion, z.B. Handy usw. bzw. Test-Karten). Wichtig ist auch, dass keine Beeinträchtigung durch Müdigkeit bzw. körperliche Anstrengung festgestellt wurde. Es zeigte sich vielmehr eine mediane Verbesserung von 1,2 s bezogen auf den Ausgangswert nach intensiver Trainingseinheit.

Allerdings ist eine Baseline-Untersuchung zwingend notwendig, da das Hauptkriterium die Zeitdifferenz sowie die Fehleranzahl zur Baseline ist. Jede Verlangsamung der Testzeit deutet auf eine Gehirnerschütterung hin.

Praktische Durchführung

Im ersten Schritt wird eine Demonstrationskarte (Abb. oben links) gezeigt auf der in fünf Reihen Zahlenfolgen aufgelistet sind, die von links nach rechts gelesen werden müssen. Bei Erreichen der letzten Zahl der Zahlenreihe wird eine Reihe tiefer links weitergelesen.

Test 1 mit integrierten Linien innerhalb der Zahlenreihe (Abb. oben rechts)

  • Beim ersten Test liegen acht Zahlenreihen vor, wobei die Zahlen innerhalb einer Reihe jeweils über horizontale Striche verbunden sind. Es fehlt lediglich im Vergleich zur Demonstrationskarte der schräge Strich zwischen der letzten rechtsseitigen Zahl und der folgenden linkseitigen Zahl eine Reihe tiefer. Der Reihenabstand ist etwas kleiner als auf der Demonstrationskarte. Bei Beginn der Prüfung wird eine Stoppuhr ausgelöst sobald die erste Zahl auf der Testkarte gelesen wird und das Zeitintervall bestimmt, wenn die letzte Zahl der untersten Zahlenreihe gelesen wurde. Die Stoppuhr wird nicht auf „Null“ gestellt, sondern die Zeit bleibt bestehen. Es werden die Zeitdauer für diesen Test und die Anzahl fehlerhaft vorgelesener Zahlen dokumentiert.

Test 2 ohne integrierte Linien innerhalb der Zahlenreihe (Abb. unten links)

  • Die angehaltene Stoppuhr wird in gleicher Weise ausgelöst und gestoppt, wie beim Test 1. Ebenfalls werden die Zeitdauer für diesen Test und die Anzahl fehlerhaft vorgelesener Zahlen dokumentiert. Dieser Test umfasst wieder acht Zahlenreihen, wobei keine Verbindungsstriche mehr dargestellt sind. Durch den Versatz der Zahlen innerhalb von zwei aufeinanderfolgenden Zahlenreihen ist diese Aufgabe bei gleichem Reihenabstand schwieriger.

Test 3 ohne integrierte Linien und mit verkürztem Abstand der Zahlenreihen (Abb. unten rechts)

  • Beim dritten Test ist der Reihenabstand deutlich verkleinert, so dass Schwierigkeiten durch einen Reihenwechsel entstehen können. Der übrige Ablauf ist identisch. Nach Durchführung der drei Tests liegen somit drei Test-Zeiten und drei Fehlerhäufigkeiten vor. Zusätzlich kann eine Gesamtzeit und eine Gesamtfehleranzahl ermittelt werden.

Um den Wiedererkennungswert so gering wie möglich zu halten, sollten die im Rahmen der Baseline-Untersuchung verwendeten Zahlen und die Zahlen bei Testung auf Gehirnerschütterung sowie ggf. im Rahmen einer Verlaufstestung nach Gehirnerschütterung unterschiedlich sein.

Sportler, die Brillen- oder Kontaktlinsenträger sind, sollten zur Testung die Brille bzw. Kontaktlinsen tragen.